Kürzlich stand ich in der Schlange vor der Kasse in einem Supermarkt. Vor mir lag ein drei Wochen altes Kind in einer Babytrage. „Ach, bist Du ein niedliches Kind! Lass doch mal sehen! Kuckuck! Kille kille!“ – so die Stimmen derer, die neugierig-freundlich zu dem kleinen Kind schauten. So etwas können wir jeden Tag erleben. Ein kleines Kind wird mit Freude angenommen. Anders wird manches Kind später seine Umgebung erleben: „Wenn du deinen Teller nicht leer isst, gibt es keinen Nachtisch! Du kannst mitspielen, denn wir brauchen noch einen guten Torwart.“ Darin zeigt sich: Nicht, weil ich da bin, werde ich gemocht, sondern weil ich etwas leiste, weil ich funktioniere, weil ich anderen nütze. Wenn ich aber nicht genug zu leisten vermag, kann es sein, dass ich auch meinen Wert für andere verliere. Der Glaube der Bibel sieht jeden von uns in der Rolle des kleinen Jungen in der Babytrage. Gott nimmt uns Menschen an, liebt uns, auch, wenn wir scheinbar nichts oder nur wenig „leisten“. Kranke, Schwache, Behinderte (wer gehört nicht auf irgendeine Weise dazu?) sind genauso wertvolle Menschen wie Starke und Intelligente – weil wir Menschen sind, weil Gott uns liebt, so wie wir sind. Das war die reformatorische Glaubensentdeckung Martin Luthers: Nicht wir, nicht unsere Leistung, nicht unsere Werke machen uns vor Gott wertvoll, gerecht, sondern umgekehrt: „Der Mensch wird gerecht ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Römerbrief 3,28). Damit stellte sich Luther gegen die vorherrschende Meinung in der katholischen Kirche. Mit seinen Reformbemühungen wollte Luther keine neue Kirche gründen. Aber die katholische Kirche seiner Zeit war nicht in der Lage, auf seine berechtigten Anfragen einzugehen, konnte es wohl auch gar nicht aufgrund ihrer Lehrtradition und der Autorität des Papstes. Deshalb ist es gut, bei allem Verbindenden, das in den letzten Jahren gewachsen ist, auf Luthers epochale Erkenntnis hinzuweisen, dass der Christ nicht der Vermittlung durch die Kirche, den Papst oder irgendwelcher Heiligen bedarf, sondern vor seinem Herrgott unmittelbar steht. Denn Gott hat sich uns zuerst zugewandt in Jesus Christus. Wir können Gott unsere leeren Hände direkt hinhalten und uns von ihm beschenken lassen. Denn alles Wesentliche im Leben ist Geschenk, geschenkt von einem liebenden Gott, ohne dass der Mensch etwas dazu tun könnte. Das stärkt, tröstet und entlastet noch heute, 499 Jahre nach dem Thesenanschlag Martin Luthers.
Hermann Meerheimb, Pfarrer im Pfarrverband Dettum
Hermann Meerheimb, Pfarrer im Pfarrverband Dettum