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08.07.2017 Kategorie: Propstei

Wort zum Sonntag

Von Angstphantasien frei werden

Josef und seine Brüder: von einem dramatischen Bruderzwist erzählt das 1. Buch Mose. Der begabte Traumdeuter Josef wird von seinen neidischen Brüdern gefangen genommen und an Sklavenhändler verkauft, die ihn nach Ägypten verschleppen. Nach gefährlichen Etappen im Gefängnis steigt Josef schließlich zum Finanzminister des Pharaos auf und kann in dieser Position sogar seinen Brüdern helfen, die als Hungerflüchtlinge nach Ägypten kommen. Dann stirbt ihr Vaters Jakob – am Ende stehen sich Josef und seine Brüder gegenüber, ein ungeklärtes Verhältnis. Wird Josef jetzt Rache nehmen? Er braucht ja nicht mehr aus Rücksicht auf den Vater seine Brüder zu schonen.

Die Brüder haben Angst vor Josefs Vergeltung, sie nehmen Zuflucht zu einer List. Ihren Wunsch nach Vergebung verstecken sie hinter einem Auftrag des toten Vaters. Ihrem Bruder lassen sie ausrichten. „Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 'So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben.'“ Und sie bitten ihn: „Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ So heißt es in dem Bibelabschnitt, der in der evangelischen Leseordnung für den morgigen Sonntag vorgesehen ist.

Wie reagiert Josef auf die Rede seiner Brüder? „Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.“ Er hatte niemals vorgehabt, sich an seinen Brüder für das Leid zu rächen, das sie ihm zugefügt hatten. Die Rachephantasien der Brüder existieren nur in deren Köpfen, nicht aber in Josef. Es macht ihn traurig, dass sie ihm Rachegelüste zutrauen – ohne auch nur die leisesten Hinweise dafür zu haben.

Eine wichtige Erkenntnis, die uns diese Geschichte vermittelt: Das Bösartige, das ich anderen zutraue, ist zunächst in meinem eigenen Kopf. Es sind meine Gedanken, die ich auf andere projiziere. Und auch wenn eine ganze Gruppe von Menschen die gleichen Phantasien haben mag und sich gegenseitig in ihren Ängsten hochschaukelt: es sind nur ihre eigenen Phantasien, nicht mehr.

Josef ist betrübt, dass seine Brüder ihm derartiges zutrauen. Doch er findet noch die Kraft sie zu trösten: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ Josef weiß: nicht er selber ist Richter über die Taten seiner Brüder. Diese Rolle kann und soll er Gott überlassen – Gott aber hat die Rettung der Nachkommen Abrahams im Sinn und die Rettung des Volkes, das aus ihm entstehen soll.

Gott ist ein Gott des Lebens, er will Leben bewahren – und die Ermunterung zur Vergebungsbereitschaft gehört dazu. Die Brüder hatten Vergebung erbeten und Josef vergab ihnen.

Die Geschichte zeigt: Für einen Neuanfang in gestörten Beziehungen muss man sich davon losmachen, eigene Gefühle und Gedanken dem anderen zu unterstellen. Hilfreich ist es zudem, für eigene Schuld um Vergebung zu bitten beziehungsweise erbetene Vergebung zu gewähren. Und auf alle Fälle: miteinander reden! Andreas Riekeberg
Pfarrer in St. Thomas Wolfenbüttel